Wenn die Giraffe mit dem Wolf …

… oder Worte sind Fenster oder Mauern

Nicht nur essen, trinken oder schlafen gehören zu den Grundbedürfnissen von uns Menschen. Genauso wichtig sind respektvoller Umgang, körperliche und emotionale Sicherheit und vertrauensvolle Beziehungen. Aufbauend auf intensive Forschung hat der amerikanische Psychologe Marshall Rosenberg eine besondere Sprache des wertschätzenden Miteinander-Umgehens entwickelt. Er nennt sie Gewaltfreie Kommunikation.

Gefühle brauchen Ausdruck. Sie sind hilfreiche Botschafter unserer Bedürfnisse. Denn: wenn ein Mensch Angst hat, braucht er Sicherheit. Wenn ein Schüler, eine Schülerin etwas lernen soll oder will, braucht er, braucht sie innere Bereitschaft und Offenheit. Das ist aber nur möglich, wenn die Bedürfnisse nach körperlicher und emotionaler Sicherheit zufriedengestellt sind. Diese Voraussetzungen sind in unserer Gesellschaft aber längst nicht überall gegeben, auch in den Schulklassen nicht. Ich werde zunehmend von Eltern und Lehrpersonen kontaktiert, die sich über mangelnde Sicherheit, zunehmende Gewaltbereitschaft, Ausgrenzung und Bullismus an den Schulen beklagen. Sehr oft gelingt es Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen nicht, sich und ihre Bedürfnisse gelingend zum Ausdruck zu bringen. Ablehnung, Vorurteile, Schubladendenken, Verschlossenheit, Einseitigkeit und Aggression sind längerfristig die Folge von ungenügender Bedürfnisbefriedigung. Das gilt es aufzubrechen. Gewaltfreie Kommunikation bietet einen Ansatz dafür.

Beziehungen sind zentral

Was aber brauchen Lehrerinnen und Lehrer, Schülerinnen und Schüler, damit sie sich in der Schule wohlfühlen und im motivierten Lernen und einfühlsamen Austausch engagieren können? Die Ergebnisse der modernen Hirnforschung sprechen eine klare Sprache: Engagiertes Lernen kann nur dann stattfinden, wenn die Bedürfnisse von Lehrpersonen, Schülerinnen und Schülern nach körperlicher und emotionaler Sicherheit zufriedengestellt werden. Nur wenn Sicherheit gewährleistet ist, kann jenes Vertrauen aufgebaut werden, das Lernende brauchen. Beim Lernen gilt es nämlich, Risiken auf sich zu nehmen, verletzlich und offen zu sein. Dabei sind Beziehungen ins Zentrum des Unterrichtsinteresses zu rücken. In einem auf Beziehungen basierenden Unterricht sind Sicherheit, Vertrauen, die Bedürfnisse der Schülerinnen und Schüler und der Lehrpersonen sowie die Art und Weise, wie miteinander kommuniziert wird, genauso wichtig wie Geschichte, Deutsch, Italienisch, Naturwissenschaften oder andere zu unterrichtende Fächer.

Beziehungen im Klassenzimmer entstehen hauptsächlich aus der Wechselwirkung der Anliegen (Bedürfnisse) der Schülerinnen und Schüler und der Anliegen (Bedürfnisse) der Lehrpersonen. Die Kinder und Jugendlichen kommen nicht nur mit dem Wunsch in die Schule, etwas zu lernen. Sie bringen genauso ihre Bedürfnisse nach Zugehörigkeit, Spaß, Freiheit und Autonomie mit. Lehrpersonen, deren Unterricht getragen ist von einer gelingenden Beziehung zu den Schülerinnen und Schülern, behandelt deren Bedürfnisse mit Vorrang. Wenn diese nicht genügend berücksichtigt werden, fühlen sich Schülerinnen und Schüler nicht sicher genug, um sich ganz auf den Lernprozess einzulassen.

Beobachtungen und Gefühle

Die erste Komponente der Gewaltfreien Kommunikation bringt eine Trennung von Beobachtungen und Bewertungen mit sich. Wir beschreiben sehr klar, was wir sehen und hören. Erklären lässt sich das anhand eines Beispiels: Den Satz „Du bist verantwortungslos“ hört die angesprochene Person vermutlich als Kritik und verhält sich dementsprechend verteidigend. Wenn ich stattdessen aber sage „Du hast diese Woche zweimal gesagt, dass du deine Hausaufgaben gemacht hast. Ich habe sie nicht bekommen“, wird die andere Person meiner Beobachtung eher zustimmen und bereit sein, mehr von mir zu hören. Wenn Lehrpersonen eine Sprache der Beobachtung verwenden, machen sie den ersten Schritt hin zu einer Verbindung mit den Schülerinnen und Schülern und bahnen den Weg zu einer Fortführung des gemeinsamen Dialogs.

Gefühle stellen die zweite Komponente der Gewaltfreien Kommunikation dar. Gefühle können sehr einfach ausgedrückt werden. Zum Beispiel mit „Ich bin traurig“ oder „Ich bin aufgeregt“. Gefühle sagen viel über unsere Bedürfnisse aus, über das, was wir vorrangig brauchen. Wenn Lehrpersonen die Gefühlssprache verwenden, erweitern ihre Schülerinnen und Schüler auf ganz natürliche Weise das Gefühlsvokabular und sprechen ihre Gefühle eher an. Die Schülerinnen und Schüler lernen, sich selbst und die anderen besser zu verstehen. Ihr Selbstvertrauen und ihre sozialen Fähigkeiten werden gestärkt. Die parallele Arbeit mit den Eltern lässt das Verständnis zwischen Eltern und Kindern wachsen. Das bringt mehr Respekt und einen achtsameren Umgang ins Familienleben.

Sprache der Einfühlung

Für die Lehrpersonen steht eine erweiterte Kompetenz der Gewaltfreien Kommunikation im Mittelpunkt. Sie erwerben Fähigkeiten bei der Vermittlung von Haltungen, Prinzipien und dem Verständnis der Gewaltfreien Kommunikation. Und sie erhalten eine größere methodische Flexibilität, um die Schülerinnen und Schüler in ihren Veränderungsprozessen zu begleiten und unterstützen.

Rosenberg erlebte in seiner Praxis als klinischer Psychologe die negativen Auswirkungen der diagnostischen Etikettierungen und der „Wolfssprache“ (= anklagende Sprache) hautnah. Er erforschte die Energie der Sprache, die unser Denken und Bewusstsein formt. Die auf gewohnheitsmäßigem Denken basierende und zu Gewalttätigkeit beitragende Sprache ersetzte er durch eine Sprache der Einfühlung. Während sich unsere Kulturen, Gewohnheiten, Sprachen und Glaubensvorstellungen unterscheiden, haben alle Menschen dieselben Grundbedürfnisse. Neben den überlebenswichtigen Bedürfnissen wie Wasser, Luft und Nahrung stehen Bedürfnisse, die zu unserem Wohlergehen beitragen und uns „gedeihen“ helfen. Es geht dabei um Unterstützung, Wertschätzung, Entwicklung, Autonomie.

Bedürfnisse von Strategien unterscheiden

Wie wirkt sich Gewaltfreie Kommunikation nun im Schulalltag aus? Wenn Lehrerinnen und Lehrer die eigenen Bedürfnisse erkennen, werden sie befähigt, auf eine Art und Weise zu handeln, die für sie erfüllender ist. Sie werden den Bedürfnissen der Schülerinnen und Schüler verstärkt Beachtung schenken und daraus ein kooperatives, mitfühlendes Lernklima entwickeln. Zwischen Bedürfnis und Strategie gibt es einen Unterschied: Die Strategie ist meine persönliche Reaktion. Mit meiner Strategie erfülle ich mir ein Bedürfnis. Zum Beispiel kann ich mir das Bedürfnis nach Entspannung mit verschiedenen Strategien erfüllen: Indem ich im Wald spazieren gehe, Musik höre, Sport mache oder ein Buch lese. Eine Strategie ist also individuell. Bedürfnisse sind nie die Quelle eines Konflikts. Konflikte entstehen dann, wenn wir auf bestimmte Strategien festgelegt sind. Wenn ich mich auf eine bestimmte Strategie festgelegt habe und mein Gegenüber sich auf eine Strategie eingeschworen hat, die meiner widerspricht, geraten wir in Konflikt. Um Konflikte von vornherein zu vermeiden, ist es wichtig, Bedürfnisse von Strategien zu unterscheiden.

Paula Maria Ladstätter, Trainerin der Gewaltfreien Kommunikation nach Marshall Rosenberg, pmladstaetter@gmail.com

Paula Maria Ladstätter ist Juristin, Sozialpädagogin, Mediatorin, Coach und Trainerin der Gewaltfreien Kommunikation nach Marshall Rosenberg. Ihre projektorientierte Arbeit an Schulen geschieht auf verschiedenen Ebenen: mit Eltern, Lehrpersonen sowie Schülerinnen und Schülern. Praxisorientierte Beispiele stehen im Mittelpunkt. Bei intensiven Prozessen dauert die Zusammenarbeit drei bis vier Monate.